Bis vor knapp drei Wochen war mein Interesse an Guild Wars 2 ziemlich gering. Ich hatte Guild Wars Factions damals ausprobiert und es beeindruckte mich vor allem technisch, da es sehr performant lief und weil es im Spiel dynamisch Inhalte nachladen konnte. Spielerisch fand ich das ganze aber eher mau. Vom RvR in Dark Age of Camelot ausgenommen, bin ich kein großer Freund von PvP und mag lieber offene Spielwelten.
Als ein Kollege anfing über die Beta-Phase zu schwärmen, informierte ich mich etwas mehr und da es keine Monatsgebühren gibt, sah es für mich als Gelegenheits-MMO-Spieler zunehmend interessanter aus. Leider gab es bei Amazon keine Vorverkaufs-Boxen mit Headstart-Berechtigung mehr, also wurde es die normale Retail-Version. Bei ArenaNet direkt hätte ich zwar noch die Headstart-Versionen bekommen, aber fast 10 Euro mehr für drei Tage? Äh, ne.
Nach etwas mehr als einer Woche, bin ich fast restlos begeistert. Kein MMO hat mir von Anfang an so viel Spaß bereitet. Das fängt schon bei der Charakter-Erstellung an. Wo andere Spiele für die einzelnen Klassen in der Vorschau den hochgezüchteten Helden anzeigen, sehe ich hier meine wirkliche Start-Rüstung, die ich sogar nach meinem eigenen Geschmack einfärben darf.
… and this is my story
Mit der Rassen- und Klassenauswahl alleine ist es auch nicht getan. Man muss diverse Fragen beantworten, die sich je nach Rasse bzw. Klasse unterscheiden. Alles trägt zur persönlichen Geschichte des Charakters bei und hat später Auswirkungen auf die Story.
Im Gegensatz zu den meisten MMOs spielt man zu Anfang auch nicht irgendeinen Bittsteller, der mit ein paar Fetzen am Leib und einem stumpfen Löffel bewaffnet, durch die Lande zieht. Hier hängt es ebenfalls aber davon ab, wie man sich vorher entschieden hat. Meine Wächterin ist eine Adelige (wird gefragt) aus Götterfels, die sich dazu entschlossen hat, ihre Heimat gegen die Zentauren zu verteidigen. Mit der Zeit entwickelt sich daraus ein interessanter Plot um mehrere Verräter, die das Königreich bedrohen.
Alle Charaktere starten zunächst in einer Instanz, die das Terrain der Startzone nutzt. Diesen Trick verwendet das Spiel recht häufig, um die eigene Story innerhalb der für jedermann begehbaren Zonen zu inszenieren. Nach dem man ein paar Zentauren geschnetzelt und einen verdammt großen Elementar über den Jordan befördert hat, geht es hinaus in die richtige Welt.
Anstatt mich weiter ins Getümmel zu stürzen, entschloss ich mich zu einer Tour durch Götterfels. Man mag es anfangs kaum glauben, wie groß die Hauptstädte sind. Das erste mal in einem MMO habe ich wirklich das Gefühl in einer Großstadt zu sein, in der wirklich Zehntausende leben. Die Straßen sind von massig NPCs und anderen Spielern belebt. Manche Stadtteile sind separate Instanzen, die für die Story-Missionen genutzt werden, aber auch für jeden Spieler begehbar sind.
Über den Dächern von Götterfels
ArenaNet stellt so eine natürlich Stadt nicht einfach hin, damit sie hübsch aussieht. Erkunden lohnt sich. Für jeden entdeckten Wegpunkt, jede besuchte Sehenswürdigkeit und jeden bestaunten Ausblick es gibt es Erfahrungspunkte. Übrigens: all das gibt es auch außerhalb der Großstädte.
Die Ausblicke (Vistas) sind meist auf Dächern, Säulen oder Bergen. Der Weg zu ihnen will erstmal gefunden werden, was manchmal gar nicht so leicht ist. Da Götterfels aus drei Höhenebenen besteht, muss man gelegentlich in der dritten Dimension denken und Geschicklichkeit beweisen, um die Aussichtspunkte zu aufzusuchen. Einige Plattformen (Rata Sum!) sind nur mit solch waghalsigen Sprüngen zu erreichen, dass man sie nur über die Schnellreisefunktion wieder lebend verlassen kann.
Hat man alle Wegpunkte, Sehenswürdigkeiten und Vistas gefunden, gibt es eine Belohnung in Form von Geld, Spaß-Items und einem dicken Batzen Erfahrungspunkte. Gerade am Beginn der Charakter-Karriere lohnt sich eine ausgedehnte Tour durch die Hauptstädte. Ach, wer glaubt, Götterfels sei groß, sollte seine Kinnlade festhalten, wenn er zum ersten mal durch das Portal nach Löwenstein tritt.
Für ein vollständig erkundetes Gebiet fallen die Belohnungen noch um einiges üppiger aus. Zusätzlich dazu kann man sich auf dem Land auch noch Fertigkeitspunkte mit speziellen Herausforderungen verdienen, mit denen man neue Skills freischalten kann.
Insgesamt gesehen fällt mir kein MMO mit einer schöneren und glaubwürdigeren Spielwelt ein. Die Hauptstädte verdienen diese Bezeichnung, kleinere Städte sind nicht nur eine Ansammlung von ein paar Häusern, Bauernhöfe haben teils wirklich große Felder … ArenaNet hat hier wirklich sehr viel Liebe ins Detail gesteckt und dazu kommt ein wunderbares und vor allem unverwechselbares Art-Design.
Die komplette Spielatmosphäre ist durchweg großartig. Sei es nun das eben angesprochene Art-Design, dessen Umsetzung in Spielgrafik oder der herrausragende Soundtrack von Jeremy Soule.
Kurz zur Grafik: wunderschön und butterweich, selbst auf meinem nicht mehr ganz frischen System: Core i5 750, 8 GB RAM, GeForce 460 GTX. Es mag Leute geben, die sich über die Laufanimationen beschweren, aber sowas geht mir dann wirklich sonst wo vorbei.
Immer feste druff
Jede Klasse darf zig Waffentypen inkl. eigener Skills einsetzen. So ändert sich das Spielverhalten innerhalb derselben Klasse mit anderen Waffen teils erheblich. Meine Wächterin quälte sich anfangs mit Streitkolben und Schild. Zwar kann man mit dieser Kombination mehr einstecken, muss aber auch in Kauf nehmen, dass die Kämpfe recht zäh sind.
Als Verehrer des Todesritters aus World of Warcraft, will ich aber möglichst viel aushalten und mich trotzdem durch ganze Gegnerhorden schnetzeln. Erstmal musste eine Zweihand-Waffe her. Passenderweise hatte gerade ein Gilden-Kumpan ein passendes Großschwert für mich. Dessen Skills eignen sich perfekt, um mehrere Gegner auf einmal zu attackieren. Der Wirbelangriff haut ordentlich Schaden raus, dazu passend gibt’s einen Area-DoT, einen normalen DoT und einen Sprungangriff, um den Kampf einzuleiten oder fliehende Gegner zu verfolgen.
Da Guild Wars 2 auch Unterwasser-Gebiete hat, steht jedem Charakter auch eine separate Unterwasserwaffe (Dreizack) zur Verfügung. Nützliches Detail: ein entsprechendes Atemgerät bekommt man von Anfang an. Wasseratmungstränke oder ähnlicher Quatsch sind also nicht erforderlich.
Ab Level 7 darf man zu dem zwischen zwei Waffen fließend umschalten. Die jeweiligen Skills haben beim Wechsel keine Abklingzeit, so dass man sofort mit der anderen Waffe loslegen kann. Zwar ist der Austausch nur alle zehn Sekunden erlaubt, aber das ist trotzdem eine mächtige Komponente, um schnell in die Defensive wechseln zu können, wenn es mal brenzlig wird.
Letzteres ist besonders wichtig, da Guild Wars 2 keine Einteilung zwischen Tank, Healer und Damage Dealer kennt. Jeder Spieler kann im Grunde alles. Selbstheilung beherrscht jeder Charakter von Anfang an. Über das Skillsystem lassen sich weitere Heilfähigkeiten freischalten, die teils auch andere Spielern zugutekommen.
Klassisches Buffen entfällt hierbei genauso und dafür bin ich ArenaNet sehr dankbar. Jeder, der mal einen Paladin in World of Warcraft gespielt hat, wird wissen, was ich meine … ich habe ohnehin nie verstanden, warum viele neuere MMOs grundsätzlich nur Buffs auf Zeit gewähren.
Das Buff-System in Dark Age of Camelot fand ich wesentlich sinniger. Alle Buff-Klassen haben die zusätzliche Ressource Konzentration. Jeder Buff verbraucht einen gewissen Teil davon. Damit ist die Zahl der Nutznießer zwar begrenzt, aber man muss nicht ständig aufpassen, ob der ganze Krempel noch aktiv ist. Später wurde noch eine Maximalreichweite eingeführt, um die Buff-Bot-Problematik (Zweit-Accounts, die einfach irgendwo geparkt werden) einzuschränken.
Natürlich gibt es trotzdem Buffs — offizieller Name: Effekte. Sie gelten für jeden in einem bestimmten Umkreis um den Spieler und sind immer nur für eine gewisse Zeit aktiv. Das gilt im übrigen auch für die Heilzauber.
Damit ist alles leicht kontrollierbar ohne in Micro-Management auszuarten. Durch dieses System hat ArenaNet aber noch eine weitere Quasi-Konvention des Genres aufgehoben. Es kann niemand aufgrund seiner Klasse einfach in eine gewisse Spielrolle gedrängt werden. Wieder ein Punkt für den ich sehr dankbar bin. Aus meiner Sicht war es immer höchst anmaßend, dass andere Spieler einem vorschreiben wollten, wie man seine Klassen zu skillen und zu spielen hat. Wer sich nicht daran hielt, war dann einfach nur ein Noob und wurde beschimpft. Das ist nicht Sinn und Zweck eines Online-Rollenspiels …
Quests und Events
Statt ständig nach NPCs mit einem Ausrufezeichen über dem Kopf Ausschau zu halten, bekommt man einen Auftrag automatisch sobald man in der Nähe ist. Ist der Job erledigt, wird ein Dankesschreiben samt Belohnung per Postsystem zugestellt.
Da die Post ohne Briefkästen auskommt, kann man sich das Geld und ggf. Items einfach direkt ins Inventar ziehen. Möchte man einem anderen Spieler etwas schicken, geht das einfach per Kontextmenü im Inventar. Noch schnell den Namen eintragen und ab geht die Post — im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Aufgabenbandbreite ist dabei recht abwechslungsreich verpackt: Felder entwurmen, Getreide bewässern, Ratten jagen, Schmierereien entfernen, vieles mehr und natürlich Gegner plätten.
Zu diesen Quests kommen Events, die u.U. zu einer Quest gehören können bzw. sich mit ihr ergänzen, sich via NPC an bestimmten Punkten starten lassen oder zufallsgesteuert ablaufen. Wie bei neuen Aufgaben wird man automatisch darüber informiert, sobald man in der Nähe ist. In Sachen Abwechslung wird ebenfalls einiges geboten: Eskortmissionen, Champion-Monster (keinesfalls alleine oder nur mit wenigen Leuten versuchen!), NPC-Festungen einnehmen, Befreiungsaktionen, Burgverteidigung etc.
Letztendlich läuft es doch meist darauf raus, irgendwas aus den Latschen zu hauen, aber ArenaNet verpackt das ganze sehr geschickt, so dass keine Langeweile aufkommt.
Events skalieren automatisch mit der Spieleranzahl – sind also auch mit vielen Leuten noch fordernd bzw. notfalls auch alleine machbar. Die Belohnung richtet sich nach dem Beitrag, den man innerhalb des Ereignisses leistet. Dabei geht es olympisch zu, da eine Einteilung in Gold, Silber und Bronze erfolgt. Je nach Rang erhält man Erfahrungs- und Karmapunkte. Für letztere gibt es spezielle Händler (oft die Quest-NPCs), die besonders tolle oder praktische Gegenstände verkaufen.
Crafting
Wie in anderen Spielen muss man die Ressourcen zum Crafting selbst sammeln, aber die Spieler können sich die Sachen nicht gegenseitig wegschnappen. Entdecke ich eine Kupferader, kann ich dort genauso abbauen wie jeder vor oder nach mir. Sie verschwindet nur für die diejenigen, die dort schon abgebaut haben — eine bestimmte Zeit lang versteht sich.
Außerdem darf man alle Rohstoffarten abbauen, wenn man das richtige Werkzeug dabei hat. Für die Hacke, Axt und Sichel gibt es je einen separaten Ausrüstungs-Slot, so dass sie nicht im Inventar nutzlos Platz wegnehmen.
Jede „Ernte“ bringt zusätzlich Erfahrungspunkte ein, genauso wie das Herstellen von Gegenständen. Bei den Items richtet sich die Höhe der EXP nach dem Aufwand ihn herzustellen.
Möchte ich beispielsweise einen Kettenhandschuh herstellen, brauche ich dazu die nötigen Kettenglieder, das Innenfutter und noch eine magische Ressource (Random-Drops von diversen Gegnern). Die Kettenglieder werden aus Bronzebarren hergestellt, die aus gesammelten Kupfer und gekauftem Zinn gegossen werden. Für das Innenfutter muss man Stofffetzen sammeln, zu Ballen zusammenfügen und mit gekauftem Faden vernähen. So entsteht eine kleine Produktionskette, fast wie bei Anno. Der Handschuh bringt am Ende noch eine ordentliche Portion Erfahrung. Zusätzlich steigt man natürlich auch innerhalb seiner Profession auf, um immer bessere Dinge bauen zu können.
Fazit
Vermutlich habe ich noch 100 tolle Dinge an Guild Wars 2 vergessen. Ich bin das erste mal mit einem MMO wirklich rundum glücklich, vor allem weil es mich von Anfang an gut behandelt. Forscherdrang wird selbst auf Level 1 schon durchweg belohnt. Dabei meine ich nicht nur Erfahrungspunkte, sondern viel mehr, dass man die wunderschön gestalteten Hauptstädte regelrecht erleben darf.
Wo andere Spiele mit Kleinigkeiten und Micro-Management nerven, geht ArenaNet konsequent einen komfortablen, aber dennoch nicht zu einfachen Weg. Nichts wirkt seicht, obwohl man durchaus meinen könnte, dass zu viel Komfort den Anspruch reduziert.
Ein Vergleich zu The Old Republic: am Anfang fühle ich mich mehr wie ein hilfloses Opfer. Insbesondere als Sith wird man auf Korriban regelrecht gequält, in dem man in die immer gleich aussehenden Grabmäler geschickt wird, teilweise sogar mehrmals in dasselbe. Man ist nur noch genervt, will sein Lichtschwert und möglichst schnell runter von dieser öden Sandkugel.
In Guild Wars 2 habe ich mich dagegen in den ersten Stunden nur wohl gefühlt. Seien es nun die Quests, Events oder einfach nur eine Rundreise durch die Hauptstädte. Ich war nicht einmal genervt und habe höchstens über meine eigene Dummheit geflucht, weil ich einen Weg zu einem Aussichtspunkt nicht auf Anhieb gefunden haben, obwohl er im Nachhinein betrachtet kaum zu übersehen war.
Dazu kommt eine motivierende persönliche Geschichte, die ich selbst über die Fragen bei der Charaktererstellung beeinflussen kann. Das erinnert dezent an Dragon Age: Origins, natürlich kann es bei weitem nicht so umfangreich sein.
Zum Abschluss noch ein großer Pluspunkt: trotz Item Store ist in Guild Wars 2 kein Spiel, in dem man sich den Erfolg einfach erkaufen kann. Es gibt keine Über-Items und ähnliches im Angebot. Außerdem kann man auch sein überschüssiges Gold in die kaufbare Währung umtauschen. Man ist also unter keinen Umständen gezwungen, reales Geld ausgegeben zu müssen. Bravo!
Update 7.9.2012: ich habe den Text deutlich überarbeitet, dabei viele Fehler korrigiert, Formulierungen geändert bzw. verbessert und Fakten besser herausgestellt.